Seilermeister
Uwe Jacobshagen, 2015, VG Bildkunst
Einer von 24 Handwerkern in Porträt: Seilermeister Holm Steffens aus Rogätz

Leidenschaft und schöne Dinge

Ein neuer Bildband aus dem Mitteldeutschen Verlag porträtiert 24 Handwerker aus Sachsen-Anhalt. Autor Peter Traub und Fotograf Uwe Jacobshagen nähern sich an Lebenswege und Arbeiten der Handwerker aus traditionsreichen Handwerksbetrieben an.

Die nachfolgende Leseprobe stellt Seilermeister Steffen Holms aus Rogätz vor.



Der Ösenspließ

Ein Tagpfauenauge dringt mit der Morgensonne in den langen aber nur wenige Schritte breiten Werkstatttrakt, zu dem uns Holm Steffens die Tür öffnet. Der farbenfrohe Schmetterling schwingt sich mit wenigen Flügelschlägen über mattgrüne und stahlgraue Maschinenkörper sowie über die im Laufe der Zeit von einer dunklen Patina verfärbten Werkbänke. Er macht Rast auf Regalfächern oder halbgeöffneten Schubladen, wo Schneid- und Flechtwerkzeuge verwahrt werden. Auch einen Halt am Seilergeschirr zu unserer Rechten scheut er nicht. Dann kehrt er zu uns zurück, um mal an der einen, bald an einer anderen Seiltrommel am Boden zu verweilen, auf welche die unterschiedlichsten Naturfaser- und Kunststoffseile gewickelt sind.

Der Geruch von Öl und Wachs steigt uns in die Nase. Und die Rufe einer vorüberfliegenden Möwenschar erinnern daran, wie nah wir hier – in der Rogätzer Seilerstraße Nummer acht – dem Elbestrom sind. Winzige Fasern schweben durch die erwärmte Luft. Die einfallende Helligkeit bricht sich milchigweiß in den aufgewirbelten Staubteilchen. Und ganz allmählich entschwindet der Tagfalter in einen schattigeren Bereich des Raumes.

»Die Werkstatt eines Seil- und Taumachers wird Seilerhalle oder -bahn genannt. Die Gesamtlänge meiner Bahn beträgt 130 Meter – davon sind 50 Meter überdacht«, erklärt uns Holm Steffens. »In Norddeutschland heißt sie ›Reeperbahn‹, weil man da einen Seiler als ›Reeper‹ beziehungsweise ›Reepschläger‹ bezeichnet.«

Er weist nach links. »Dort geht es durch eine zweite Tür in den Garten hinaus und über die Wiese hinweg. Früher haben wir sie häufiger aufgemacht, weil Tauwerk von über 100 Meter Länge angefertigt werden musste.«

Der Handwerksmeister nickt gut gelaunt, als das Seilergeschirr unser Interesse weckt.

»Es gehört traditionell zur Ausrüstung einer Seilerwerkstatt und besteht aus der fest in­stallierten Kurbelseite mit drei, vier drehbaren Haken – sogenannten ›Warbeln‹ – und einem beweglichen, schlittenähnlichen Gestell mit nur einem Aufhängehaken.

Zwischen den beiden Enden des Geschirrs werden die Leinen beziehungsweise Seilstränge ausgespannt und anschließend miteinander verdreht. Eine ›Lehre‹ hält sie solange auseinander, bis durch das Verdrillen – man sagt in meinem Beruf ›Schlagen‹ – genügend Spannung auf den Strängen liegt. Schiebt man die ›Lehre‹ anschließend auf die Kurbelseite zu, dreht sich hinter ihr das Seil zusammen. Mit dem Festdrehen und Knoten der Seilenden wird die Arbeit beendet, oft auch durch das Herstellen eines Spleißes.

Natürlich haben Maschinen die einzelnen Arbeitsschritte bei der Schnur-, Seil-, Tau- und Trossenherstellung längst übernommen. Auf dieser Litzenmaschine werden die gesponnenen Fäden aus Kunststoff- und Naturfasern zu einzelnen Litzen verdrillt, die man später wiederum für Schnüre, Seile oder Taue nutzt.

Etwas weiter steht eine Schlagmaschine. Mit ihr verbinde ich, ähnlich wie beim traditionellen Seilergeschirr, die Litzenstränge zu Seilen. Dahinter befinden sich eine Zähl- und eine Wickelmaschine. Ich messe damit zuerst die Gesamtlänge der fertigen Produkte und wickle sie anschließend auf.«

Wir möchten gerne wissen, wozu er die vielen kleinen, mittleren und großen Metallzahnräder benötigt, die über den Maschinen an stabilen Wandhalterungen hängen.

»Die Größe der Zahnräder hat direkten Einfluss auf die Stärke der Seile, Taue und Trossen, die ich anfertigen möchte. Ich muss sie wechseln, je nachdem, was ich vorhabe«, antwortet er. »Sicher, es gibt erheblich modernere Maschinen für meinen Handwerksberuf. Ich habe den gesamten Bestand von meinem Vater Rolf übernommen. Er erhielt einen Teil dessen schon von seinem Vorgänger, meinem Großvater. Bis heute erzeugen sie jedoch genau das, was von den Kunden benötigt wird: verlässliche Qualität.«

Schraubenzieher und -schlüssel liegen unterhalb der aufgereihten Zahnräder sowie eine Taschenlampe, die der Seilermeister dazu nutzt, an den schwächer ausgeleuchteten Stellen der Maschinenkörper notwendige Einstellungen und Wartungen vorzunehmen.

»Noch weiter rechts steht meine Bindfadenmaschine. Von ihr werden Baumwollmischgarne zu Fein- und Mischbindfäden verarbeitet. In überwiegend weiße bis elfenbeinfarbene Garne binde ich ein, was an Schmuckgarnen möglich und gewollt ist – grüne, blaue, rote oder schwarze. Zum Beispiel zu Weihnachten wünschen sich Kunden immer wieder die Farben weiß, grün und rot.

Gleich daneben, auf der ältesten Maschine in meiner Werkstatt – sie kommt aus Chemnitz und wurde von der Firma C. Oswald Liebscher gebaut – stelle ich einen Dreifach-Bindfaden aus Hanf her. Er wird mit einer wachsartigen Emulsion behandelt, nimmt also kaum Feuchtigkeit auf und bleibt fest zusammen. Viele Kunden verwenden ihn gerne als Packschnur. Für jene, die einen stärkeren Strick für ihre Pakete wollen, fertige ich einen Vierfach-Bindfaden an.« Zufrieden fährt Holm Steffens mit der Hand über das Metallgestell der Apparatur.

»Dahinter folgen eine Maschine, auf der früher Litzen für die Schornsteinfegerkehrleinen produziert wurden, und die Flechtmaschinen, mit denen ich Polyesterflechtleinen für das Maurerhandwerk herstelle.«

Er geht mit uns an Rollschränken vorüber, deren Fächer mit Schrauben, Muttern, Ketten oder »Kauschen« genannten Öseneinsätzen gefüllt sind. Ein Schleifgerät, Sägen, Zangen, Feilen liegen griffbereit sowie Spleißdorne aus Rinderhorn, Kirschbaumholz und Metall. Hüte und Arbeitsschürzen hängen nicht weit entfernt über einer Garderobenleiste.

Wir fragen, was ihn eigentlich bewogen hat, das Seilerhandwerk zu erlernen?

»Es war vor allem der Wunsch meines Vaters. Er wollte mich als seinen Nachfolger und fünfte Generation in der Firma, die seit 1876 in Rogätz ansässig ist. Diese Tradition verpflichtet und darf nicht einfach aufgegeben werden, war die Meinung meines Vaters. Und ich gab irgendwann nach. Eigentlich wäre mir ein Beruf im Hotel- und Gaststättengewerbe lieber gewesen. Ich hätte später gerne mal ein eigenes Restaurant geführt. Zu allererst wollte ich raus in die Welt und etwas erleben. Doch mein Vater hat getan, was er konnte, um mich zu halten.

Die zweijährige Lehrzeit absolvierte ich bis 1984 in Annaberg-Buchholz. Es folgte die Rückkehr nach Rogätz und die Arbeit im väterlichen Fünfmannbetrieb. Meine Meisterausbildung in Magdeburg schloss ich 1986 erfolgreich ab. Mir wurde damals gesagt, ich sei der bis dahin jüngste Handwerksmeister im Land. Den Betrieb habe ich im Jahr 2000 übernommen«, erzählt er uns.

»Inzwischen ist die Firma mein Leben und bietet mir vielfältige Gestaltungsmöglichkeiten. Ich bin stolz darauf, dass es das Unternehmen schon seit 140 Jahren gibt.« Er nimmt eine Baumwollschürze von der Garderobe und von einer der Ablagen den Spleißdorn aus grauem Horn. Mit einem Stück Naturfaserseil setzt er sich auf einen Stuhl und beginnt, einen Ösenspleiß für uns anzufertigen.

»Das ist eine der kniffligsten Aufgaben in meinem Handwerk. Je dicker die Stränge des Tauwerks sind, desto mehr Kraft und Geschick erfordert es, sie zu lockern, um dann die Enden schön und schlüssig einzuflechten. Jeder Seiler hat dafür so seine Tricks und ein Lieblingswerkzeug – meines ist dieser Spleißdorn aus Rinderhorn.«



Uwe Jacobshagen/Peter Traub
Leidenschaft und schöne Dinge
Handwerk in Sachsen-Anhalt

160 S., geb., 220 × 270 mm, zahlr. Farbabb.
ISBN 978-3-95462-620-5

Erschienen: September 2016

www.mitteldeutscherverlag.de

Buch Leidenschaft und schöne Dinge
Uwe Jacobshagen, 2015, VG Bildkunst